Gone Home

Zeitreise direkt ins Herz

Meine beste Freundin fragte mich, warum ich lange keine Beiträge mehr für dieses Blog verfasst habe, und recht hat sie. Ich hatte längst schon wieder etwas posten wollen, habe ich doch fleißig gespielt in letzter Zeit – und dabei diverse Games nicht nur an-, sondern sogar durchgespielt. Letzteres waren, zugegeben, kürzere Spiele, die nach drei, vier Stunden vorbei sind. Das bedeutet aber nicht, dass sie mich nicht berührt haben, im Gegenteil. Gone Home, für das ich gerne ein bisschen Reklame machen möchte, hat mich sogar sehr berührt, bis an die Grenzen eines gebrochenen Herzens, und dass das ein Computerspiel schafft, ist schon eine Seltenheit. Vor allem, da ich das Spiel unter völlig falschen Voraussetzungen gekauft habe. Tochter kommt nach längerem Auslandsaufenthalt nach Hause und findet das Haus verlassen? Das muss ein Gruselspiel sein! Ich liebe Gruselspiele! Meistens gruseln sie mich zwar so sehr, dass ich mich nicht traue, sie weiterzuspielen, aber … versuchen kann ich es ja.

Gone Home ist kein Gruselspiel. Das heißt nicht, dass ich mich nicht zwischendurch arg gegruselt hätte – man schleicht durch ein dunkles, verlassenes Haus, während draußen ein Unwetter tobt, und dazu findet man auch noch Hinweise, dass es in dem Haus spukt – aber es ist kein Gruselspiel, und die Geschichte, die es erzählt, ist nur ganz am Rand die von Oscar, der in diesem Gemäuer angeblich umgehen soll und von dem man doch nichts zu sehen bekommt. Es ist vor allem die Geschichte von Sam und Lonnie, und ein bisschen auch von mir. Zu tun gibt es nicht viel: Man geht durch das Haus, schaltet die Lichter ein (vor allem, wenn man eine Bangbüx ist wie ich), findet ab und zu einen Schlüssel zu den versperrten Bereichen, und eine Reihe von Notizen, die man lesen kann, und Tagebucheinträgen, die aus dem Off vorgelesen werden. Die Graphiken sind noch nicht mal entsetzlichen gut. Aber das genügt völlig, um eine Geschichte zu erzählen, die wirklich ins Herz geht.

Sams Zimmer, direkt aus den 90ern

Amerika in den 90ern. Katie, die ältere Schwester, war ein Jahr in Europa, und kommt mitten in der Nacht in ein fremdes Zuhause – die Familie ist in der Zwischenzeit umgezogen. Niemand ist da, und auch wenn Katie ihr Kommen auf dem Anrufbeantworter angekündigt hat, scheint den niemand abgehört zu haben, die Nachricht ist noch da, zusammen mit einigen kryptischen, verzweifelt klingenden Nachrichten für Katies Schwester Sam. Aber Sam hat Briefe an Katie im Haus verteilt, Tagebucheinträge, aus denen sich die tragische Liebesgeschichte von Sam zu ihrer Freundin Lonnie zusammensetzt. In manchen Rezensionen zu diesem Spiel findet sich der Hinweis, dass die Geschichte von einem Mädchen auf der Suche nach der eigenen Sexualität erzählt. Das ist Bullshit. Die Geschichte handelt von einem Mädchen, das die eigene Sexualität gefunden hat in einer Umwelt, die das so nicht akzeptieren kann oder will.

Hätte sie es heute einfacher? Leider muss man davon ausgehen, dass sich auch in zwanzig Jahren wenig geändert hat, was Akzeptanz angeht. Aber heute würde die Kommunikation anders ablaufen, stünde Katie in ständigem Kontakt zur Familie und würde nicht nur in Postkarten ohne Antwortadresse von sich hören lassen, und Kommunikation oder der Mangel davon ist ein ganz wesentliches Element dieser Geschichte. So haben die Macher dieses Spiels mit Akribie ein Jahrzehnt auferstehen lassen, von dem man kaum glauben mag, wie lang es schon vorbei ist. Manches ist fremd, weil zu typisch amerikanisch, anderes weckt Erinnerungen … Ich sage nur Dekogänse, Dekogänse überall. Mixtapes. Videokassetten. Fotocollagen. Details über Details. Alles kann man in die Hand nehmen, anschauen, zurücklegen – kaum etwas davon trägt etwas zur Handlung bei, aber zum Zeitkolorit, und ich habe mir die Zeit genommen, alles anzuschauen, was sich irgendwie anschauen lässt.

Eine Geschichte in der Geschichte: Sams Alter Ego, Captain Allegra, und ihr Maat

Dabei setzt sich nicht nur Sams Geschichte zusammen. Der Vater, ein Schriftsteller, steckt in Midlifecrisis und Schreibblockade und findet langsam in sein Handwerk zurück. Die Mutter, angestellt sinngemäß beim Forstamt, verguckt sich in einen knackigen Parkranger, gibt aber doch ihrer Ehe noch eine Chance. Je nachdem, wie man geht, findet man die Hinweise nicht in chronologischer Reihenfolge, was die Spannung nur erhöht. Manches ergibt wenig Sinn – in der Badewanne sind noch die Reste roter Farbe, begleitet von einer Tagebuchsequenz, in der Sam Lonnie beim Haarefärben hilft, die aber schon ein halbes Jahr zurückliegt; die Farbe hat keinen Grund mehr, dort zu sein und erinnert ein bisschen zu plakativ an Blutspritzer. Eine Kissenburg im Wohnzimmer fällt auch arg aus der Chronologie. Irgendwas ist immer. Aber es stört nicht die Wirkung dieser zarten, zerbrechlichen Geschichte, die ohne Klischees auskommt und, auch wenn niemand von ihnen anwesend ist, die glaubwürdigsten Figuren seit langem mitbringt

Am Ende habe ich mich zwingen müssen, das Spiel zuendeszuspieln. Es war kein Ort mehr übrig als der Dachboden, und die Geschichte hatte eine so tragischen Wendung genommen, dass ich mir zu sicher war, dort oben eine Leiche zu finden, wo ich mir ein Happyend mehr als alles andere wünschte. Der einziger Grund, warum ich mir ein Herz fasste und wirklich die Luke zum Dachboden anklickte war das Wissen, dass ich sonst von der Geschichte geträumt hätte und es nur besser kommen konnte als das, was ich mir zusammenträumen konnte. Erst danach habe ich vieles, was mir im Haus unterschwellig aufgefallen war, verstanden. Warum unter den diversen Fernsehern nur noch lose Kabel verrieten, dass da eigentlich Videorekorder sein sollten. Und was die Nachrichten auf dem Anrufbeantworter zu bedeuten haben, die ich schon fast wieder vergessen hatte … Gone Home ist kein Gruselspiel, und man findet keine Leichen, noch nicht mal auf dem Dachboden. Stattdessen: ein Ende, das zumindest ein bisschen Hoffnung macht.

Letztlich sehe ich Gone Home nicht als Spiel. Es gibt nichts zu tun, keine Rätsel zu lösen, keine Gegner zu besiegen, keine Gegenstände miteinander zu kominieren, nur rumlaufen, gucken, zuhören. Es ist eine Geschichte, die einen anderen Weg wählt, sich zu erzählen, als man das von Büchern oder Filmen kennt. Und man sollte als Spieler auch nicht mehr erwarten als eine Geschichte, die sich langsam entblättert. Aber auch nicht weniger als das. Wer sich gruseln will, sollte lieber Amnesia spielen. Wer eine Geschichte will, die direkt ins Herz geht, ist hier richtig. Ich weiß nicht, wie es für Spieler ist, die von den Neunzigern nichts oder nicht viel mitbekommen haben. Sie werden viele der Details vermutlich nicht zu würdigen wissne. Aber ich wurde in den Neunzigern erwachsen, ich habe die Welt bereist, Postkarten geschrieben und Tagebuch, ich habe mich zweimal sterblich verliebt und zweinmal unsterblich, und auch wenn ich nie in einer Punkband gespielt habe, finde ich ich mich in Sams Geschichte doch mehr wieder, als ich von einem Computerspiel erwartet hätte.

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